Günter Orban - Literat

DIE GROSSE FLUT


 

Eine Überschwemmungsgeschichte von Günter Orban c2006


 

Aus der Leitung floss kein Wasser mehr, aber durch die Aussentüre lief es in die Innenräume als gehörten ihm unendlich viele unsichtbare Beine.

 

Kranzelbinder hatte sich gedacht, dass hier ein gutes Versteck ist. Die Leiche lag gewichtbeschwert auf Grund und flussabwärts kannte er das seit Jahren leer stehende Haus am Ufer, in dem er sich jetzt einrichtete.

 

Mit dem Hochwasser hatte er nicht gerechnet.

Auch gut! Am Dachboden stand ein Kasten voller Dosen und Gläser. Die Dosen mit Gulaschgatsch, mit Würsteln aus Plastik (oder doch aus irgendeinem Fleisch?) gefüllt, die Gläser mit fast versteinertem Powidel. Noch genießbar. In einigen Gläsern lagen Ratten. Tot von zuviel Marmelade. Zierliche Skelette waren das, den Knochenschädel tief im konservierten Fruchtfleisch. Die Gläser mit den intakten Zellophanverschlüssen und die noch nicht abgelaufenen Dosen trug er in den ersten Stock, in dem es bereits feuchtelte. Wasser hatte er genug, um das zusammengetrocknete Zwetschkenfleisch aufzuweichen.

 

Kranzelbinder wusste nicht so recht, ob er sich von einer der Rettungszillen, die die umliegenden, halb  unter Wasser  stehenden Häuser anfuhren, abholen lassen sollte. Es schien ihm wichtiger, zuerst seine Situation zu überdenken, soweit er das überhaupt konnte mit seiner Wut im Bauch, die trotz des Totmachens seines Gläubigers noch immer fest am Toben war.

 

"Der Hund!" schrie die Wut, "der Hund, dieser gierige Geldverleiher ist hin! Dreimal hätte ich ihn gern hingemacht. Einmal ist für das Aas viel zu wenig!"

 

Der Himmel hörte nicht auf zu kotzen. Die leicht eitergelbe, von irgendeiner Abendsonne eingefärbte Wolkendecke entleerte nun schon seit einer Woche ununterbrochen ihre  unverdauten Wassermassen.

 

"Also eine Woche halte ich hier noch locker durch mit den Dosen und der Marmelade", konzipierte Kranzelbinder seinen Zeitplan. "Wenn es weiter regnet, sind sie alle so durcheinander, dass keiner mehr weiß, wann und ob überhaupt der Geldverleiher mein Haus betreten hat." Es war damals auch schon Abend und die kaputte, ständig flackernde Neonröhre der Straßenbeleuchtung gewährte sowieso keine klare Dauersicht.

 

Aus der Küche hatte er sich einen Dosenöffner und ein Messer heraufgetaucht. Im ersten Stock lag das Schlafzimmer und dort war es halbwegs gemütlich. Im Dunkeln. Elektrizität gab es schon lange nicht mehr, was natürlich ein Segen war. Dank an die Erfinder der Stromsicherungen. Ansonsten wäre alles schon längst zu einer brodelnden Menschen- und Tierfleischsuppe zerkocht.

 

Kranzelbinder befand sich seit acht Tagen in dem Versteck des leeren Hauses und es nervte  ihn gehörig, bei Tag nicht ans Fenster treten zu können. Noch immer fuhren die Rettungszillen und die Besatzung suchte mit Ferngläsern die Gebäude ab, versprach  den Menschen, die ihre Häuser nicht im Stich lassen wollten, schon alles Mögliche.

 

Mangels neuer Ausseneinflüsse trat immer wieder die letzte Szene aus dem Leben des Geldverleihers in Kranzelbinders Erinnerung. Seine Drohungen hörte er überlaut und das böse-grinsende Gesicht sah er vor sich. Immer genau in dem Moment, als sich der Ausdruck des Erstaunens und kurz darauf die Angst in dessen Augen legte.

 

Endlich machte es sich bezahlt, das quälende Krafttrainining für die Hände. Mühelos drückten sie zu und spürten dabei ein Gefühl als ob sie durch Pudding fuhren, in dem einige schlecht verrührte Bröckchen eingelagert waren. Danach schnitt er dem Mann alle Kleider vom Leib, verbrannte sie im Ofen, bevor er aus dem Garten ein paar große Steine hereintrug und auf den toten Körper schnürte, um ihn in der Dunkelheit im Fluss zu versenken.

 

Alles gelang perfekt. Er hatte ja die starken Hände als Hilfe. Wieder und wieder blickte er auf seine Finger, die sich durch das Krafttraining dicker und scheinbar auch kürzer geformt hatten. Fast schon Pranken waren sie geworden. Aber nur fast. Aufmerksam beobachtet, sah man oder spürte sie vielmehr, die eleganten, langgliedrigen Finger, die aus dem einst schlanken Handrücken herausragten.

 

Kranzelbinders schöne Hände brachten ihn damals in die ersten Geldnöte. Die Frauen flogen ihm zu, wenn sie einmal diese Hände über die Klaviertasten tanzen sahen. Manche spürten da schon, wie das auf der Haut wäre. Da und da und besonders dort!

 

Von soviel hingebender Aufmerksamkeit überstrahlt, lud er sie alle ein. Eine nach der anderen. Jeden spielfreien Abend  saß er mit seinen Anbeterinnen in teuren Lokalen, lag mit ihnen in teuren Hotelbetten.

 

Er begann Listen anzulegen, in denen er diese Frauen nach den Konzerten eintrug. Mit Name und Telefonnummer.

 

Bald schon reichte seine Gage nicht mehr aus und danach auch nicht mehr seine Kraft, für jedes angebotene Engagement eine Zusage zu geben.

 

Sein Schuldenmachen teilte sich in zwei Fronten. Da die geliehenen Summen und dort die vergeudete Energie. Beide nur in immer geringen Mengen zurückerstattbar. Damals begann die irrationale Abneigung gegen seine Hände. Er fing mit dem Krafttraining an. Seine Konzerte würde er auch mit umgeformten Händen spielen können.

 

Stärker und stärker bauten sich die Finger um, zu kraftstrotzenden und bald brutal wirkenden Pratzen.

Die Frauen blieben aus. Dafür wuchsen ihm büschelweise Haare auf den Fingergliedern und den Handrücken. Insgesamt wirkten sie auch kürzer und breiter. Breiter wurden auch seine Schulden, weil er durch die wenigen Konzerte die er gab, in immer größere Geldnot geriet.

 

Es wurde noch schlimmer. Eine Zerrung in der linken Hand. Drei Finger davon wie im Höllenfeuer, wenn er sie bewegte. Keine Konzerte mehr, dafür aber umso mehr geborgtes Geld.

 

Leichten Schmerz verspürte Kranzelbinder, als er den Dosenöffner rundum hebelte und mit der linken Hand die Dose festhalten musste.

 

An die Wand gedrückt, sodass man ihn durch das Fenster des Stiegenhauses nicht sehen konnte, ging er einige Minuten später die paar verbliebenen Stufen zum Wasserspiegel hinunter. Der stieg jetzt wahrnehmbar schneller. Türen und Fenster im überfluteten Erdgeschoß waren verschwunden, dem Wasserdruck nicht mehr standhalten könnend.

 

Kranzelbinder füllte einen Eimer mit dem graubraunen Überschwemmungswasser. Den zweiten Eimer mit seinen Tagesexkrementen schüttete  er immer nachts aus dem ersten Stock. In weitem Bogen, sodass die starke Strömung alles sogleich weiterbeförderte. Ob das flussaufwärts auch jemand tat, darüber getraute er sich nicht nachzudenken.

 

Das fahlgefilterte Licht im Wasser, das das Eingangstor erfüllte, wurde plötzlich von einem Schatten abgedunkelt. Nur ganz kurz, wie es ihm schien. Fasziniert und zugleich ängstlich beobachtete er diese Lichtveränderung. Vergessen war der eingetauchte, volle und schwer an seinem Arm ziehende Eimer. Es wurde wieder heller in der Türöffnung, was ihn aber keineswegs mit Freude erfüllte. Der schon leicht ins ballonhaft gesteigerte Körper des Geldverleihers flutschte durch den Eingang und stieg vor Kranzelbinder hoch. Die angebundenen Steine hatte der Kadaver verloren.

 

Mit einem hässlichen Plop-Platsch brachte der Auftrieb die gasgefüllte Leiche zur Oberfläche. Nur der Kopf, mit seinen noch immer angsterfüllten, jetzt schon ein wenig ausgebleichten Augen, schaffte es nicht. Er blieb unter dem Eimer hängen und tauchte erst auf, nachdem Kranzelbinder mit einem Rückwärtssatz auf die nächsthöhere Stufe floh. Die ungewohnte Stufenhöhe brachte ihn aus dem Gleichgewicht und zu Fall. Nach vorne und direkt auf den toten Geldverleiher. Der Eimer sank ins Parterre und Kranzelbinder lag wie auf einer Luftmatratze, panisch um sich schlagend, auf seinem Opfer. Die Leichenstarre war bereits wieder aufgelöst und durch seine heftigen Bewegungen legte sich für einen schauerlichen Moment der Arm des Toten um seinen Hals. Es sah aus wie eine leidenschaftliche Umarmung, in der der Obenliegende mit ausholenden Gesten noch näher an den Partner heranzukommen beabsichtigte. Einige sehr lange Sekunden verstrichen, ehe sich Kranzelbinder frei machte, keuchend, nass und spuckend auf der Treppe saß und auf einen Punkt zwischen seinen Füßen starrte. Überall wollte er hinschauen, nur nicht auf das Unglück, das ihm die Flut bescherte.

 

In zwei Stunden würde die Dämmerung zu kompletter Schwärze verkommen und bis dahin musste er sich eine Methode ausdenken, um sein Mordopfer abermals loswerden zu können. Er wollte es wieder durch die Türöffnung hinausdrücken, aber ohne es berühren zu müssen.

 

Am Dachboden durchstöberte er aufgeregt alle Ecken und Winkel. Dabei kaute er an einem harten Stück Powidel, ohne es wirklich wahr zunehmen.

Knapp unter der inneren Dachkante fand er ein zwei Meter langes Aluminiumrohr mit Jahrzehnte altem Staub bedeckt. Einen Zoll stark und wahrscheinlich von der Heizungsinstallation übergeblieben. Voller Freude über seinen Fund, setzte er das Rohr an die Lippen und trompetete leise und verhalten seinen Triumph in die Luft. Danach musste er sogar ein bisschen lächeln, als ihm einfiel, wie oft er seine diversen Inspizienten in den Konzertproben erschreckt hatte. Immer wenn eine dieser Proben zu aller Zufriedenheit geglückt war, rollte er ein paar Notenblätter zusammen und trötete durch sie den Radetzkymarsch. „Die Leut, die Leut, die Leut san dumm....“.

 

Mit einem Besenstiel verlängerte er das Rohr und dann begann das Warten auf die Nacht.

 

Bevor es gänzlich finster wurde saß er, mit der auf den Leichnam angesetzten Besenstange, auf der letzten trockenen Stufe. Er wollte nicht erst im Dunkeln danach angeln müssen. Mechanisch durch das Rohr mit seinem Opfer verbunden, wechselten sich Wut, Reue, Angst und Erleichterung ab. Noch dazu wurde ihm schauerlich klar, dass es in diesem, immer höher steigenden Gewässer fleischfressende Tiere geben musste. Dem toten Körper vor ihm fehlten ein, zwei herausragende Organe.

 

Der Schweiß seiner Hände vermischte sich mit dem Dreck auf dem Rohr zu einem schlüpfrigen Brei. Kranzelbinder packte fester zu, um den Halt nicht zu verlieren, denn der Ekel hatte sich über das Rohr bis zu seinen Fingern ausgebreitet, sodass er immer lockerer und leichter, mit sowenig Kontakt wie möglich, daran festhielt.

 

Einstweilen konnte er nichts anderes tun, als die brutale Seite relativer Zeit durchzusitzen. Die Minuten kamen ihm wie Äonen vor. Auf den Sekundenzeiger seiner Uhr hatte er schon längst eine Mordswut entwickelt, weil der immer langsamer zu werden schien.

 

"Aber war denn Zeit und deren Relativität nicht sowieso immer brutal?" dachte er in einem der wenigen Momente der Ruhe, die ihm seine gestresste Psyche hie und da gönnte. Wie im Flug war doch die Zeit dahin, bis wiederum der Geldverleiher auf den Plan treten musste. Nein, eigentlich war es zum Schluss schon ein echtes Zeitrasen, in dem er nicht mehr richtig wahrnehmen konnte, wann ihm zuletzt Geld geliehen wurde. Nur am Klavier, da war sie immer gleich, die Zeit. Ein Achtel war ein Achtel und ein Viertel war immer und ewig von den gleichen Metronomschlägen bestimmt und eingehalten. Zumindest von ihm. Aber da gab es schon auch andere, die das nicht so genau nahmen.

 

Endlich wurde es gänzlich finster. Kurz davor hatte er nur Augen für die immer mehr verschwindende Türöffnung unter Wasser. Er prägte sich genau die Stelle ein, durch die er seinen Geldverleiher hinausschieben würde.

 

Fest drückte er seine Stange gegen die nackte, tote Brust und schob. Ein leiser Zischlaut und die Stange steckte tief im Körper. Er schob noch fester und irgendwie spürte er bis in die Finger, wie er noch ein Stück tiefer eindrang, weiter und in den Bauch hinein. Dann stieß er auf etwas Hartes und schob mit voller Kraft Richtung Türe. Es ging ganz leicht. Der Kopf und der Brustkorb waren schon durch, als der alte Besenstiel abbrach und wie ein kurzer Speer hin und her wippte. Nach dem ersten Schrecken kam ein Wundern in Kranzelbinder auf. Wieso konnte er das plötzlich sehen, dieses grausige Mallheur dort in der Türöffnung halb unter Wasser? In seiner Angespanntheit und dem Überkonzentriertseinwollen entging ihm, dass der Regen endete und durch eine dünne Wolke das Mondlicht durchbrach.

 

Ohne seine Gedanken zu beachten, sprang er in die Brühe zu dem Toten hin, versuchte ihn schnell durch das Tor zu drücken, bevor er spürte wie tödlich tief sich das scharfe, zackige Ende des Besenstiels in seinen Hals gerammt hatte.


 

Ende

 

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